'Er war nicht gegen Juden'

Predigt zu 80 Jahren Wannseekonferenz und Holocaustgedenktag 2022, Prediger 8,10-14


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Von Kathrin Oxen

„Er war nicht gegen Juden und hatte mit der Vernichtungskampagne nichts zu tun.“ Die Frau, die diesen Satz gesagt hat, wurde nur wenige Kilometer von meinem Heimatort in Ostholstein auf der Insel Fehmarn geboren. Die Lehrerstochter Lina von Osten heiratete am 26. Dezember 1931 in der Kirche von Großenbrode den zuvor unehrenhaft aus der Marine entlassenen Reinhard Heydrich. Sie soll schon mit 19 Jahren eine „überzeugte Nationalsozialistin und glühende Antisemitin“ gewesen sein, so das Urteil des Heydrich-Biografen Robert Gerwarth. Auf ihr Drängen reiste ihr Mann doch noch nach München, zu einem eigentlich schon abgesagten Vorstellungsgespräch bei Heinrich Himmler. Seine steile Karriere im Dritten Reich unterstützte sie nach Kräften.

Nach Kriegsende wurde Lina Heydrich zunächst als „Mitläuferin“ eingestuft, später jedoch rehabilitiert. Nach jahrelangem Rechtsstreit wurde ihr 1958 endgültig eine Hinterbliebenenrente für sich und ihre vier Kinder zugesprochen. Die juristische Argumentation: Reinhard Heydrich war 1942 einem Attentat und damit einer „unmittelbaren Kriegseinwirkung zum Opfer gefallen“.

Lina Heydrich betrieb bis 1969 eine Pension auf ihrer Heimatinsel Fehmarn, die zum Treffpunkt alter SS-Kameraden avancierte. „Die durch den deutschen Steuerzahler gut versorgte Lina Heydrich sollte niemals ein Wort des Bedauerns über die Taten ihres Mannes äußern“, sondern „starb im August 1985, voller Verachtung für eine Gesellschaft, die es ablehnte, die Opfer zu würdigen, die ihre Familie während des Krieges gebracht hatte“ (Robert Gerwarth).

Und weiter sah ich Gottlose, die begraben wurden und zur Ruhe kamen; aber die recht getan hatten, mussten hinweg von heiliger Stätte und wurden vergessen in der Stadt. Das ist auch eitel. Weil das Urteil über böses Tun nicht sogleich ergeht, wird das Herz der Menschen voll Begier, Böses zu tun. (Pred 8, 10f.)

Von all dem wusste ich nichts, obwohl ich mich seit meiner Jugend sehr für das Thema Nationalsozialismus interessiere. Lina Heydrich lebte noch, als ich aufs Gymnasium in Oldenburg in Holstein kam. Thema im Geschichtsunterricht waren die großen Ereignisse des Dritten Reichs. Die Wannseekonferenz war nur ein Datum. So als wären es keine echten Menschen gewesen, die zusammengesessen und beraten hätten, dort am Wannsee wo ich heute gerne spazieren gehe. In dem Haus, das bis 1988 als Schullandheim genutzt wurde und erst seit 30 Jahren Gedenkstätte ist. Nie war im Geschichtsunterricht Thema, was eigentlich nach dem Krieg aus all den Nazis geworden ist. Es wäre durchaus möglich gewesen, dass ich das Kleid für meine Abiball in einem Modegeschäft auf Fehmarn gekauft hätte. Die erst nach dem Tod Reinhard Heydrichs geborene Tochter Marte betreibt es bis heute. Ihr Sohn heißt übrigens auch Reinhard.

Ich wusste nichts davon, genauso wenig wie von der Herkunft der noch in meiner Kindheit gelegentlich auftauchenden Knochen im Sand am Ostseestrand der Neustädter Bucht. Kein Thema im Geschichtsunterricht, diese Knochen. Die stammten von den Toten der Cap Arcona. Fast 5000 KZ-Häftlinge kamen am 3. Mai 1945 dort noch ums Leben, als das Schiff irrtümlich von britischen Bombern beschossen wurde. Zu den wenigen Überlebenden gehörte der Schauspieler Erwin Geschonneck. Sein Sohn Matti ist der Regisseur des Films über die Wannseekonferenz, der morgen abend im ZDF zu sehen sein wird.

Nimm einen Faden der Erinnerung auf, nur einen. Und dann wirst du sehen, wie alles mit allem zusammenhängt. Und du wirst auch sehen, dass wahr ist, was der Prediger schreibt, einer, der schon alles erlebt und gesehen hat unter der Sonne. Es ist eitel, was auf Erden geschieht: Es gibt Gerechte, denen geht es, als hätten sie Werke der Gottlosen getan, und es gibt Gottlose, denen geht es, als hätten sie Werke der Gerechten getan. (Pred 8, 14f.)

"Er war nicht gegen Juden und hatte mit der Vernichtungskampagne nichts zu tun." Wer über die gegenwärtige Herrschaft alternativer Fakten nachdenkt, muss sich sagen lassen: Es gibt auch in Bezug darauf nicht Neues unter der Sonne. Verdrehen, verdrängen, vergessen wollen, das Gegenteil von dem behaupten, was wahr ist - auch das hat eine lange, ungute Tradition in unserem Land. Lina Heydrich ist vielleicht ein besonders abschreckendes Beispiel. Aber sie ist trotzdem keine Ausnahmeerscheinung. Weil das Urteil über böses Tun nicht sogleich ergeht, wird das Herz der Menschen voll Begier, Böses zu tun.

Die Fäden, die losen Enden unserer Geschichte liegen überall herum. Wie Spinnweben aus der Vergangenheit überziehen sie bis heute unseren Umgang mit unserer Geschichte. Es gibt keinen Ort, von dem es nicht eine Verbindung dorthin gibt. Auf Schritt und Tritt hier in Berlin und genauso an den sonnigen Ostseestränden meiner Kindheit. Oder an jedem anderen beliebigen Ort in Deutschland.

Wir verdrängen und vergessen nicht. Und auf uns wartet eine neue Aufgabe: Die Wahrheit zu sagen nicht nur über unsere Geschichte, sondern auch über die Aufarbeitung dieser Geschichte, über all das Verdrängen, Vergessen, Nicht-Wahrhaben-Wollen, die Lügen und die Niedertracht. Die Fäden ordnen, die seit dem Dritten Reich nicht abgerissen sind und bis in unsere Gegenwart reichen. Und sie endlich abschneiden. Wenn ein Sünder auch hundertmal Böses tut und lange lebt, so weiß ich doch, dass es wohlgehen wird denen, die Gott fürchten, die sein Angesicht scheuen. (Pred 8, 12)

Amen.


Kathrin Oxen