Die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt

Predigt zum 3. Sonntag n. Epiphanias (Röm1, 14-17)


© Pixabay

Von Stephan Schaar

Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserm Vater, und dem Herrn Jesus Christus! AMEN.

Ich bin allen verpflichtet: den Völkern mit hoher Kultur und den primitiven, den gebildeten und den unwissenden. Darum liegt mir sehr viel daran, auch euch in Rom die Gute Nachricht zu bringen.

Ich habe keine Hemmungen, die Gute Nachricht zu verkünden. In ihr wirkt Gottes Macht. Sie rettet alle Menschen, die glauben, zuerst die Juden, dann aber auch die anderen Völker. Die Gute Nachricht enthüllt die Gerechtigkeit Gottes - aus Treue erwächst Vertrauen, wie in der Schrift steht: ‘Leben wird der Gerechte aus Glauben.’

Liebe Gemeinde,

heute ist kein Reformations-Gedenktag, sondern einfach nur der dritte Sonntag nach Epiphanias, und doch wird uns hier ein knackiger Paulus-Text präsentiert, der ausschlaggebend war für Luthers reformatorische Entdeckung eines gnädigen Gottes, nach dem er so lange und verzweifelt gesucht hatte.

Die Gerechtigkeit Gottes, so beschreibt der Reformator im Rückblick sein “Turmerlebnis”, unterscheidet sich fundamental von dem, was man bis dahin als Gottes Gerechtigkeit verstanden und gelehrt hatte: Ein unerbittlicher und blinder Rechthaber gegenüber allem und jedem, was Menschen je an Fehlern begehen - wie Iustitia mit Augenbinde und  Schwert, die kein Ansehen der Person, aber auch kein Erbarmen kennt, sondern nur die göttliche Norm hier und dort den menschlichen Makel, dem Zorn, Gericht und Strafe gebührt.

Nein! Falsch!! Irrtum!!! Δικαιοσυη του θεου muss anders übersetzt werden! Was im Griechischen oder Lateinischen (iustitia Dei) eine Genitiv-Konstruktion ist, wird in der deutschen Sprache oftmals als ein zusammengesetztes Wort wiedergegeben. Die Muttersprache ist die Sprache der Mutter, welche sie ihrem Kind vermittelt. Die Vaterliebe ist (nicht ausschließlich, aber vermutlich meist) die Liebe des Vaters zu seinen Kindern, während die Vaterlandsliebe in jedem Fall die Liebe zum Vaterland ist.

Die Gerechtigkeit Gottes kann also nicht nur die Gott eigene Gerechtigkeit bedeuten, sondern auch - und so übersetzte Luther dann - die Gerechtigkeit im Hinblick auf Gott oder, etwas eleganter, “die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt”, noch besser vielleicht “die Gerechtigkeit, die Gott uns anrechnet”. Das kann ja gar nicht anders gemeint sein, erkannte er, wenn dieses Gottesverhältnis darauf basiert, dass jemand Gott vertraut, vom Glauben an Gott geprägt ist.

So versteht Paulus - und in seinem Gefolge der Wittenberger - das Schriftzitat aus dem Buch Habakuk “der Gerechte wird aus Glauben leben”, was man allerdings  auch “der Gerechte wird aus Treue am Leben bleiben” übersetzen kann - wobei hier offen bleibt, ob es die Treue Gottes zu dem Gerechten ist, die ihn am Leben hält, oder aber seine eigene Zuverlässigkeit als Partner Gottes.

Das hätte Luther natürlich verneint, und vermutlich hätte sich Paulus sehr schwer getan mit einer Antwort. Denn zwar sagt er - ich weiß gar nicht, ob das alle beim Vorlesen mitbekommen haben -, dass die Juden zuerst gerettet werden, aber er sagt es bezüglich der Kraft Gottes, zu retten - und das ist die Gute Nachricht, die Frohe Botschaft, das Evangelium. Das ist, noch genauer, der Glaube, der annimmt, was uns Gott in seinem rettenden Wort mitteilt - nämlich dass uns das Leiden und Sterben Christi angerechnet wird, als hätten wir etwas getan, das Gott gerecht wird.

Ich fasse die Botschaft des Apostels an die ihm unbekannte Gemeinde in Rom noch einmal in einem einzigen Satz zusammen: In der guten Nachricht wirkt Gottes Macht, die alle Menschen rettet, die glauben. Man kann diese fundamentale Wahrheit kommentieren und mit allerhand Beispielen ausschmücken, wie das im Neuen Testament ja auch reichlich geschieht. Man kann es aber auch bei dieser schlichten Wahrheit belassen und abwarten, bis Gottes Macht sich auswirkt, indem Menschen zum Glauben kommen und also gerettet werden.

Das ist geschehen, und zwar in beeindruckender Weise: In Windeseile hat sich der christliche Glaube ausgebreitet, angefangen bei Juden, die den Messias gekommen glaubten, dann aber auch bei den Griechen, den Römern, den Völkern rund ums Mittelmeer. Da, wo heute das Zentrum des Islam ist, von der Türkei bis nach Marokko, war das Christentum in den nächsten sechshundert Jahren zuhause, lange bevor die Gute Nachricht diesseits der Alpen bekannt geworden ist.

Und dann hat es noch einmal Jahrhunderte gedauert, bis der Staub abgeschüttelt wurde, der sich auf der Heiligen Schrift angesammelt hatte, bis man wieder ernsthaft fragte, was Gott uns denn nun wirklich zu sagen hat in seinem Wort, dem man sich aussetzte, statt damit Macht auszuüben - kein Hokuspokus mehr, sondern sola scriptura!

Aber merkwürdig: Das ist jetzt auch schon wieder über 500 Jahre her, und wie es scheint, lockt die Frohe Botschaft heute kaum noch jemanden hinter dem Ofen hervor. Wie kann das sein? Brauchen wir heute denn keinen gnädigen Gott mehr? Oder hat sich die Gute Nachricht abgenutzt durch häufigen Gebrauch - und vor allem auch Missbrauch?

Bücher werden ja heutzutage auch nur noch von wenigen gelesen, während die Entdeckung des Buchdrucks im 15. Jahrhundert eine technologische Revolution darstellte, die durchaus mit der Erfindung des Telefons, des Radios, des Fernsehens und des Internets vergleichbar ist.

Als Musik auf CDs gepresst wurde, habe ich meine kratzanfälligen Schallplatten abgeschafft, und statt der leierigen Videokassetten habe ich mir Filme auf DVD zugelegt - meine Kinder haben dafür nur ein müdes Lächeln übrig: Heute wird gestreamt, und seine Daten speichert man in einer Cloud. Alles andere ist von vorvorgestern.

In den vergangenen Monaten ist uns zwar wieder zu Bewusstsein gekommen, dass das Leben bedroht, der Frieden brüchig, unser Wohlstand nicht selbstverständlich ist. Aber wir hatten uns in den Friedens- und Wachstumsjahrzehnten davor daran gewöhnt, auf Knopfdruck jene Portion Glückgefühl abrufen zu können, die uns bequem erreichbar ist.

Jetzt, da Corona endemisch zu sein scheint, buchst du wie vormals eine Pauschalreise und weißt: Du kommst in aller Regel sicher ans Ziel, hast ein Quartier jenes Standards, den du dir leisten kannst und willst, freust sich auf ein paar Ausflüge und einen Abschlussabend bei Kerzenschein. Freilich wirst du keine Abenteuer erleben, aber für die kostbarsten Wochen des Jahres möchtest du auch nichts riskieren. Oder du wählst einen Radiosender und weißt im Vorhinein, dass du dich nicht aufregen musst über irgendeinen blödsinnigen Wortbeitrag oder gar schlechte Musik, denn der Sender ist auf deinen Geschmack abgestimmt.

Der Verfasser eines (älteren) Beitrags in den “Predigtstudien” nannte dies “das Glück der Gleichgültigen”. Dem steht die Verheißung entgegen, dass der Gerechte aus Glauben lebt. Und der sucht sein Glück nicht in routinierten Erwartungen, sondern baut darauf, dass Gott alles möglich ist.

Nein, liebe Gemeinde: Der Glaube an Gott ist nicht von vorgestern. Nur die individualisierte Seligkeit des Gläubigen ist nicht mehr unser Thema, denke ich. Die Vorstellung von einem Rettungsboot, das man betreten darf, ja bereits betritt, wenn man seinen christlichen Glauben bekennt, wird nur noch von den Anhängern zweifelhafter Heilslehren vertreten. Es geht nicht um einen “Fensterplatz im Himmel”, wenn von Rettung gesprochen wird, und die Macht Gottes wäre in unverantwortlicher Weise kleingeredet, bezögen wir sie ausschließlich darauf, bei diesem und bei jener Glauben zu wecken - eben jenen Glauben des einzelnen, dass er oder sie “gerettet” sei (was immer das dann heißen soll)!

Können wir uns vorstellen, durch den Glauben gerettet zu sein, während wir mit ansehen, wie Gottes Schöpfung - durch unser Tun und Lassen - in die Katastrophe rast? Das ist nichts anderes als der zur Frage umformulierte Satz des Philosophen Theodor Adorno: “Es gibt kein richtiges Leben im Falschen.” Die Antwort auf meine Frage kann, bin ich überzeugt, nur “nein” lauten.

Und so muss, meine ich, nach dem richtigen Leben gesucht werden, wenn die Gute Nachricht unseren Glauben geweckt hat und wir danach streben, aus Glauben zu leben - als jene, die Gott zurecht gebracht hat, so dass sie in Treue zu ihm und seiner Verheißung leben wollen und leben können: Der Gerechte wird aus Treue am Leben bleiben.

Der gerechtfertigte Sünder wird nicht aufhören, Fehler zu machen, ja. Aber er wird dafür brennen, als Bundesgenosse Gottes dem Leben zu dienen - und so wird er selber am Leben bleiben, bis es dem Herrn über Leben und Tod gefällt, ihn aus diesem Leben abzuberufen, um ihn statt dessen teilhaben zu lassen an Gottes Gegenwart, an seiner Ewigkeit. Das ist kein Rettungsboot, liebe Gemeinde, sondern der Sieg des Lebens über den Tod, Auferstehung, Ostern.

Auch ich habe keine Hemmungen, die Gute Nachricht zu verkünden. In ihr wirkt Gottes Macht. Davon bin ich überzeugt. Gott helfe mir.

Amen.


Stephan Schaar