Vor Gott wert geachtet (Jesaja 49,1-6)

Gottesdienst am 23.09.2018


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von Ältestenpredigerin i.R. Gudrun Kuhn (Nürnberg)

Willkommenskultur Deutschland – so hieß es vor drei Jahren. Tausende von Menschen zeig­ten sich berührt und in die Verantwortung gerufen durch die Geflüchteten. Zahllose Hel­fe­rinnen und Helfer. Rentner und Berufstätige nach Feierabend. Ärztinnen und pen­sio­nier­te Leh­rer. Handwerker und Sozialarbeiterinnen. Alte und Junge. Aus Kir­chen­ge­mein­den und Sport­vereinen. Was ist daraus geworden? Da hört man viele Klagen:

Ich arbeitete vergeblich und verzehrte meine Kraft umsonst und unnütz.

Drei Jahre lang habe ich die Familie begleitet, die Kinder sind erfolgreich in der Schule, die Eltern haben eine Beschäftigung gefunden, wir können uns auf Deutsch unterhalten. Aber immer noch gibt es keine Wohnung.

Ich arbeitete vergeblich und verzehrte meine Kraft umsonst und unnütz.

Drei Jahre habe ich dem jungen Mann ein Zuhause geboten. Und jetzt ist er doch in die Fänge von islamistischen Predigern geraten und gilt als Gefährder.

Ich arbeitete vergeblich und verzehrte meine Kraft umsonst und unnütz.

Drei Jahre ist der minderjährige Geflüchtete nun schon hier. Ich habe erlebt, wie lerneifrig und zuverlässig er mehrere Praktika absolviert hat. Ich könnte ihn so gut brauchen in meinem Betrieb, aber er bekommt keine Erlaubnis zur Ausbildung.

Ich arbeitete vergeblich und verzehrte meine Kraft umsonst und unnütz.

Drei Jahre werden die jungen Geflüchteten nun schon von unserer Gemeinde betreut. Inzwischen sind sie 18 und würden gerne auch selbständig leben wie andere. Aber es gibt nirgends einen Platz für sie.

Ich arbeitete vergeblich und verzehrte meine Kraft umsonst und unnütz.

Drei Jahre hat der junge Afghane sich bei uns um Integration bemüht, die Sprache gelernt und eine Lehre begonnen. Jetzt wird er abgeschoben.

Ich arbeitete vergeblich und verzehrte meine Kraft umsonst und unnütz.

Drei Jahre habe ich mich als Journalistin bemüht, ohne Vorurteile und der Wirklichkeit gemäß zu berichten. Aber gelesen und gehört werden vor allem die Lügengerüchte und Hetzparolen.

Ich arbeitete vergeblich und verzehrte meine Kraft umsonst und unnütz.

Drei Jahre haben wir uns engagiert, das alte Pfarrhaus umgebaut und für Asylbewerber zur Verfügung gestellt. Viele aus der Gemeinde wären bereit, den jungen Männern Angebote für Gespräche und Unternehmungen zu machen, sie einzuladen. Aber wir finden bei ihnen kein Echo.

Ich arbeitete vergeblich und verzehrte meine Kraft umsonst und unnütz.

Liebe Gemeinde,

finden Sie sich wieder in solchen Klagen? Würden Sie sie gerne ergänzen? 49,4 Ich arbeitete vergeblich und verzehrte meine Kraft umsonst und unnütz ... So klagt einer in der Bibel.

Und er fährt fort: … wiewohl mein Recht bei dem HERRN und mein Lohn bei meinem Gott ist.

Der hier vor 2400 Jahren seine Stimme erhob, hat erkannt, dass sein Handeln nicht nach dem Erfolg bewertet wird. Was recht, was richtig, was gerecht ist, entscheidet sich bei Gott. Und ER ist es, vor dem wir in der Verantwortung stehen. Nicht Belohnung durch Erfolg oder Aner­ken­nung unter den Menschen soll Motiv des Handelns sein.

Das sagt sich leicht ...

Woher sollen wir die Kraft für Engagement nehmen, wenn wir kaum Früchte unseres Tuns sehen. Helferinnen und Helfer geraten mehr und mehr unter Generalverdacht. Wer Men­schen aus Seenot rettet, wird als Schlepper verklagt. Wer sich für Geflüchtete engagiert, wird im besten Fall als Naivling belächelt, von vielen inzwischen aber auch beschimpft. Wer sich in der Politik für Demokratie einsetzt, wird verunglimpft und verleumdet. Und an nicht we­ni­gen be­ginnt der Zweifel zu nagen, ob die Mauerbauer in Ungarn und an­ders­wo nicht doch Recht be­halten.

Was nützt es uns, als gute Deutsche ein reines Gewissen zu haben, wenn wir durch unsere Hilfsbereitschaft den Rechtsruck in der Gesellschaft beschleunigt haben?

Ich arbeitete vergeblich und verzehrte meine Kraft umsonst und unnütz, wiewohl mein Recht bei dem HERRN und mein Lohn bei meinem Gott ist.

Wer war das, der solche Worte wagte?

Wie so oft, gehört die biblische Stimme nicht zu einer realen historischen Person. Der Knecht Gottes, der hier spricht, ist eine literarische Figur – eine Figur, in der Lesende sich und ihre eigenen Erfahrungen spiegeln können. Und sein Titel, übersetzt als ‚Knecht‘, führt uns in die Irre. Dieser Titel war nicht für Sklaven ge­dacht, sondern für hochgestellte Persönlichkeiten, für Minister und andere Stellvertreter von Herrschern. Der Knecht Gottes, er steht für Menschen, die sich von Gott zum ver­ant­wort­lichen Handeln berufen wissen.

49 1 Der HERR hat mich berufen von Mutterleibe an; er hat meines Namens gedacht, als ich noch im Schoß der Mutter war. 2 Er hat meinen Mund wie ein scharfes Schwert gemacht, mit dem Schatten seiner Hand hat er mich bedeckt. Er hat mich zum spitzen Pfeil gemacht und mich in seinem Köcher verwahrt.

Das gibt es: Menschen, die von Mutterleibe an berufen sind. Die aus tiefstem Herzen und aus vollster Überzeugung handeln. Die gar nicht anders können. Die nicht überredet werden müs­sen, das Rechte zu tun. Die nicht auf Ehrerweisung hin arbeiten. Die nicht danach fra­gen, ob ihr Handeln Erfolg hat. Von Mutterleibe an berufen. Das sind die Mitarbeiter und Mit­ar­beiterinnen Gottes in der Welt.

Sie wagen es, sich einzumischen und ihre Stimme zu erheben. Sie agieren tatkräftig. Sie trauen sich etwas, weil sie sich bei Gott geborgen wissen. Mit dem Schatten seiner Hand bedeckt, in seinem Köcher verwahrt. Also doch erfolgreich?

Nein, erfolgreich nach menschlichem Maßstab ist der biblische Gottesknecht gerade nicht. Von ihm heißt es später:

53 2 … Wir sahen ihn, aber da war keine Gestalt, die uns gefallen hätte. 3 Er war der Aller­verachtetste und Unwerteste, voller Schmerzen und Krankheit. Er war so ver­ach­tet, dass man das Angesicht vor ihm verbarg; darum haben wir ihn für nichts geachtet.

Was für ein Gegensatz: Von Gott berufen und gewürdigt und von den Menschen verachtet und missbilligt! Ist es das, was von uns verlangt wird? Ist uns das zuzumuten, dass wir, wenn wir men­schen­lie­bend handeln und Gottes Weisungen erfüllen möchten, zu Außenseitern werden? Dass wir es aushalten, doch immer wieder zu scheitern und keinen Erfolg unserer Bemühungen zu sehen?

Wer schreibt so etwas? Warum wurde dieser Text in der Bibel überliefert?

Die Frage ist berechtigt. Es gab schon sehr früh jüdische Theologen, die ihn umgedeutet ha­ben. Undenkbar war es für sie, dass der Gottesknecht, ursprünglich gedacht als Identi­fi­ka­tions­figur für Israel, kein siegreicher Held ist, sondern einer, der vor aller Welt als verfolgt und verachtet da stand, als einer der unter den Verfehlungen seiner eigenen Zeitgenossen leidet. Dann doch lieber die Geschichten von David erzählen. Kriegerische Erfolge, Sieg um Sieg und Ruhm über Ruhm. Dann doch lieber die eigene Geschichte mit ihren Schat­ten­sei­ten übertünchen durch Legenden einer großartigen Vergangenheit.

Kommt das nur mir bekannt vor? Weg mit Mahnmalen. Keine Erinnerungskultur, die sich auch den schwarzen und schwärzesten Epochen stellt. Holocaust und Kriegsverbrechen: ein „Vogelschiss“ gegenüber der ansonsten glänzenden deutschen Geschichte …

Die Zeitgenossen, an die unser Predigttext ursprünglich gerichtet war – sie scheinen so weit weg nicht von solchem Denken. Der Krieg und das Exil sind beendet, aber das Volk Is­ra­el ist uneins und gespalten. Manche haben sich längst mit der fremden Obrigkeit ar­ran­giert. Manche hoffen auf das Erstarken eines Nationalstaats und einen neuen Krieg, in dem sie alle Gegner niedermachen. Viele leiden unter existenzieller Not und sozialer Un­ge­rech­tig­keit. Fast alle weigern sich, die politische Verantwortung für die Geschehnisse der Ver­gan­gen­heit, die zur Niederlage gegen Babylon geführt haben, zu übernehmen. Stattdessen suchen sie nach Schuldigen, die sie verachten können. Der Gottesknecht – er symbolisiert dagegen das Ideal eines Menschen, der die früheren Versäumnisse und Verfehlungen aufzeigt und die Schuld auf sich nimmt.

53,4 Doch unsere Krankheiten, er hat sie getragen, und unsere Schmerzen hat er auf sich genommen. Wir aber hielten ihn für einen Gezeichneten, für einen von Gott Ge­schla­genen und Gedemütigten.

Die Zukunft Israels – sie kann für die Verfasser unseres Predigttextes erst dann beginnen, wenn die Idealfiguren in den Köpfen der Menschen ausgewechselt werden. Kein krie­ge­ri­scher Superheld – sondern ein als erfolglos Verlachter, der die Wahrheit vertritt. Kein gnadenloser Herrenmensch, der nach dem Recht des Stärkeren agiert – sondern ein Knecht Gottes, der seine ethischen Weisungen vom Herrn empfängt.

3 Du bist mein Knecht, spricht der Herr, durch den ich mich verherrlichen will. … darum bin ich vor dem HERRN wert geachtet und mein Gott ist meine Stärke.

Der Gottesknecht, er soll die Zukunft Israels garantieren. Eine Zukunft, die mit Umkehr beginnt und die Verhärtungen und Vorurteile im Denken umstürzt.

Und wer garantiert unsere Zukunft?
Überall auf der Welt setzen sich selbstherrliche Männer durch. Überall auf der Welt – auch in Europa – wird der Ruf nach dem überlegenen eigenen Nationalstaat laut. Überall geraten die verspotteten Gutmenschen in die Verteidigungsposition.

Und wo die Kirche – wie bei uns – sich auf die Seite der Hilfsbedürftigen und Hilfsbereiten stellt, wirft man ihr vor, sie mische sich unangemessen in die Politik ein.

Was ist denn für die Kirche angemessen?
Ihr steht es gut an, sich an der Figur des Gottesknechts auszurichten, zu dem Gott spricht: 6 … Es ist zu wenig, dass du mein Knecht bist, die Stämme Jakobs aufzurichten und die Zer­streuten Israels wiederzubringen, sondern ich habe dich auch zum Licht der Hei­den gemacht, dass du seist mein Heil bis an die Enden der Erde.

Das ist nun wirklich das Gegenprogramm zu den Fantasien von einem abgegrenzten Nationalstaat, der alle Fremden fernhält oder mit Waffengewalt seine Macht erweitert, das Gegenprogramm zu einer Herabwürdigen aller anders Denkenden und Glaubenden. Auch solche Fantasien gibt es im Buch Jesaja. Zum Beispiel das Verbot von Heiraten zwischen Israeliten und Nicht-Israeliten. Und den Aufruf zur Zerstörung fremder Heiligtümer. Aber der Gottesknecht ist anders, denn er garantiert eine gewaltlose Verwirklichung von Gottes Wei­sun­gen, er steht für eine Gerechtigkeit, die für alle zum Vorbild werden kann.

42,1 Siehe, spricht der Herr, das ist mein Knecht – ich halte ihn – und mein Auserwählter, an dem meine Seele Wohlgefallen hat. Ich habe ihm meinen Geist gegeben; er wird das Recht unter die Heiden bringen. … 3 Das geknickte Rohr wird er nicht zerbrechen, und den glimmenden Docht wird er nicht auslöschen. In Treue trägt er das Recht hinaus.

Ja, der Kirche steht es gut an, sich an der Figur des Gottesknechts auszurichten. Sie haben es ja sicher schon längst gemerkt: Die zitierten Texte kennen wir gut, weil sie in der christlichen Auslegung auf Jesus von Nazaret gedeutet wurden. Er ist Gottes Knecht, der der Allerverachtetste war, obwohl er ganz im Einklang mit Gott gelebt hat. Er ist der, der das Recht in Treue hinausträgt bis auf den Hügel von Golgatha.

Und wir? Dürfen wir uns selber auch im Spiegel der Gottesknechtfigur als Beauftragte und Erwählte Gottes sehen? Ja, das dürfen wir. Im Johannesevangelium (20,21) sagt Christus: Wie mich der Vater gesandt hat, so sende ich euch.

Ein einfacher Auftrag ist das freilich nicht. Die Ideale, die in der Figur des Gottesknechts gesetzt sind, überfordern uns. Das vorbildhafte Leben und Sterben Jesu ist für uns nicht einholbar. Die Erfahrungen des mühsamen Alltags machen uns mutlos. Hinter unseren eigenen moralischen Ansprüchen bleiben wir meilenweit zurück. Nein, als Gottesknechte fühlen wir uns nicht. Wie könnten wir es aushalten, immer wieder Erfolglosigkeit und Schei­tern beklagen zu müssen. Wie könnten wir, die wir selber in Egoismus und Erfolgssucht ge­fan­gen sind, Stellvertreterinnen und Stellvertreter Gottes werden?

Wir können es, weil wir es sind, weil Gott auch zu uns spricht: 49,3 … Du bist mein Knecht, … durch den ich mich verherrlichen will. Du Israel, du Kirche, du Frau und Mann, die ihr nach meinen Weisungen leben und handeln wollt, ihr seid das Salz der Erde, auch wenn ihr nicht vollkommen seid. Fürchtet euch nicht.

Darum bin ich vor dem HERRN wert geachtet
und mein Gott ist meine Stärke.

AMEN

Jesaja 49
1 Hört mir zu, ihr Inseln, und ihr Völker in der Ferne, merkt auf! Der HERR hat mich berufen von Mutterleibe an; er hat meines Namens gedacht, als ich noch im Schoß der Mutter war.
2 Er hat meinen Mund wie ein scharfes Schwert gemacht, mit dem Schatten seiner Hand hat er mich bedeckt. Er hat mich zum spitzen Pfeil gemacht und mich in seinem Köcher verwahrt.
3 Und er sprach zu mir: Du bist mein Knecht, Israel, durch den ich mich verherrlichen will.
4 Ich aber dachte, ich arbeitete vergeblich und verzehrte meine Kraft umsonst und unnütz, wiewohl mein Recht bei dem HERRN und mein Lohn bei meinem Gott ist.
5 Und nun spricht der HERR, der mich von Mutterleib an zu seinem Knecht bereitet hat, dass ich Jakob zu ihm zurückbringen soll und Israel zu ihm gesammelt werde, – darum bin ich vor dem HERRN wert geachtet und mein Gott ist meine Stärke –,
6 er spricht: Es ist zu wenig, dass du mein Knecht bist, die Stämme Jakobs aufzurichten und die Zerstreuten Israels wiederzubringen, sondern ich habe dich auch zum Licht der Heiden gemacht, dass du seist mein Heil bis an die Enden der Erde.

Erstes so genanntes Gottesknechtlied


Gudrun Kuhn