Schwindelerregend

03.02.2019

Berge sind relativ. Je höher sie sich erheben und je näher man ihnen kommt, desto riskanter werden sie. Auch Theologie ist relativ, abhängig von der Steilheit ihrer Thesen, wie weit sie sich vorwagt und welche Ansprüche sie erhebt. Karl Barths süffisante Bemerkung über seine Wahlheimat Göttingen, in der die Einheimischen «von ‹Bergen›, ‹Spitzen› und dergleichen reden […], was bei uns kaum ein ernsthafter Misthaufen heissen dürfte» (Karl Barth – Eduard Thurneysen, Briefwechsel II 1921–1930, Zürich 1974, 62) hat auch eine theologische Pointe. «Flachländer» wie der Greifswalder Theologe Erich Foerster vermuteten hinter der «schreck-lichen» Radikalität von Barths Theologie seine Herkunft als «Sohn der Schweizer Berge». Und der Angesprochene bestätigt: Dialektische Theologie ist «ein grauenerregendes Spiel für alle nicht Schwindelfreien». Hier zählt die alte Bergregel: «Auf diesem schmalen Felsengrat kann man nur gehen, nicht stehen, sonst fällt man herunter» (Vorträge und kleinere Arbeiten 1922–1925, Zürich 1990, 167). Anders als im sonstigen Leben gilt: Schwindel ist keine Krankheit, sondern das Wagnis, ohne das Theologie nicht zu haben ist.

Frank Mathwig