Jesus Barabbas oder Jesus Christus

Predigt über Matthäus 27, 15 – 30


Jesus und Barabbas vor dem Richterstuhle des Pilatus. Radierung von Bernhard Rode, 1789 (Ausschnitt) © Wikimedia

15 Zum Passafest aber hatte der Statthalter Pontius Pilatus die Gewohnheit, dem Volk einen Gefangenen loszugeben, welchen sie wollten.
16 Sie hatten aber zu der Zeit einen berüchtigten Gefangenen, der hieß Jesus Barabbas.
17 Und als sie versammelt waren, sprach Pilatus zu ihnen: Welchen wollt ihr? Wen soll ich euch losgeben, Jesus Barabbas oder Jesus, von dem gesagt wird, er sei der Christus?
18 Denn er wusste, dass sie ihn aus Neid überantwortet hatten.
19 Und als er auf dem Richterstuhl saß, schickte seine Frau zu ihm und ließ ihm sagen: Habe du nichts zu schaffen mit diesem Gerechten; denn ich habe heute viel erlitten im Traum um seinetwillen.
20 Aber die Hohenpriester und die Ältesten überredeten das Volk, dass sie um Barabbas bitten, Jesus aber umbringen sollten.
21 Da antwortete nun der Statthalter und sprach zu ihnen: Welchen wollt ihr? Wen von den beiden soll ich euch losgeben? Sie sprachen: Barabbas!
22 Pilatus sprach zu ihnen: Was soll ich dann machen mit Jesus, von dem gesagt wird, er sei der Christus? Sie sprachen alle: Lass ihn kreuzigen!
23 Er aber sagte: Was hat er denn Böses getan? Sie schrien aber noch mehr: Lass ihn kreuzigen!
24 Da aber Pilatus sah, dass er nichts ausrichtete, sondern das Getümmel immer größer wurde, nahm er Wasser und wusch sich die Hände vor dem Volk und sprach: Ich bin unschuldig am Blut dieses Menschen; seht ihr zu!
25 Da antwortete alles Volk und sprach: Sein Blut komme über uns und unsere Kinder!
26 Da gab er ihnen Barabbas los, aber Jesus ließ er geißeln und überantwortete ihn, dass er gekreuzigt werde.
27 Da nahmen die Soldaten des Statthalters Jesus mit sich in das Prätorium und versammelten um ihn die ganze Kohorte
28 und zogen ihn aus und legten ihm einen Purpurmantel an
29 und flochten eine Dornenkrone und setzten sie auf sein Haupt und gaben ihm ein Rohr in seine rechte Hand und beugten die Knie vor ihm und verspotteten ihn und sprachen: Gegrüßet seist du, der Juden König!,
30 und spien ihn an und nahmen das Rohr und schlugen damit auf sein Haupt.

Lied: O Haupt voll Blut und Wunden                                   

Liebe Gemeinde,

Vor dem römischen Statthalter Pontius Pilatus, der zum ungerechten, feigen Richter an diesem Karfreitag wird, steht der gefangene Jesus: höhnisch mit der Dornenkrone und einem roten Mantel ausstaffiert, zur Lachnummer als „König der Juden“ degradiert. Pontius Pilatus macht mit und erinnert sich der Gewohnheit, dem Volk aus Anlass des Passafestes einen der jüdischen Gefangenen loszugeben – nach Wahl: also den, den sie sich aussuchen. Und da heißt es bei Matthäus:

„Sie hatten aber zu der Zeit einen berüchtigten Gefangenen, der hieß Jesus Barabbas. Und als sie versammelt waren, sprach Pilatus zu ihnen: Welchen wollt ihr? Wen soll ich euch losgeben? Jesus Barabbas oder Jesus, von dem gesagt wird, er sei der Christus? Denn er wusste, dass sie ihn aus Neid ausgeliefert hatten“ (Matthäus 27, 15-18.)

Jesus Barabbas und Jesus Christus: zwei Gefangene stehen sich hier gegenüber. Eigenartigerweise tragen sie denselben jüdischen Namen: „Jesus“. Das hat man in der Geschichte der Kirche oft verschwiegen oder durch-gestrichen oder einfach vergessen: Auch Barabbas trägt den Namen Jesus. Zum Verwechseln gleich. Dieser Name wird von Matthäus im ersten Kapitel des Neuen Testaments im Blick auf den in Bethlehem geborenen Jesus erklärt: „Jesus“ heißt, „Er wird sein Volk retten von ihren Sünden“ (Matthäus 1,21). In dieser Erklärung zitiert der Evangelist den achten Vers des 130. Psalms, wo es von dem einen und einzigen Gott heißt: „Ja, ER wird Israel retten von allen seinen Sünden.“ Eine unüberbietbare Identifikation des Jesus von Nazareth mit dem Gott des erwählten Volkes wird hier vollzogen. Man muss das vom Anfang bis zum Ende des Evangeliums im Ohr behalten.

So wird aber auch klar, was es bedeutet, dass Barabbas denselben Namen trägt: Dieser andere Jesus, der auch Barabbas genannt wird, muss gerettet werden, sonst wäre er rettungslos verloren. Er ist berüchtigt – das heißt: seine ruchlosen Taten sind ruchbar geworden. Barrabas war ein politischer Terrorist, der in seinem Fanatismus einen Mord begangen hatte. Er hatte das Schlimmste getan, was ein Mensch nach dem Abfall von Gott in der Sünde tun kann: einem Mitmenschen sein Leben nehmen, weil dieses Leben den eigenen Interessen im Wege steht. Der erste Jesus, der Christus genannt wird, muss retten, sonst wäre Barabbas rettungslos verloren. Denn auch der erste Jesus ist berüchtigt – aber in einem anderen Sinne – nämlich so, dass niemand auf die Frage des Pilatus antworten kann: „Was hat er denn Böses getan?“

So stehen sie sich gegenüber: der Ruchlose und sein Retter, beide mit dem Namen „Jesus“. In dieser Gegenüberstellung wird an Beiden etwas deutlich: An Jesus Barabbas wird das Unfassliche der Leidensgeschichte des Jesus, den sie den Christus nennen, fassbar. Der Sünder wird freigesprochen; er ist frei, ohne zur letzten Verantwortung gezogen zu werden für seine Schuld. An Jesus Barabbas sollen wir erkennen: Seit dem Tag seines Freispruchs trägt heimlich jeder Schuldige auch den Namen Jesus. Denn dieser Name ist für alle Schuldigen die einzige Hoffnung, weil Jesus Christus für jeden von ihnen das Urteil auf sich genommen hat, weil er für jeden von uns Schuldigen gestorben ist: weil er allein „sein Volk retten kann von seinen Sünden“.

Und an Jesus Christus, dem unschuldig Hingerichteten, sollen wir erkennen: Seit dem Tag seiner Verurteilung ans Kreuz gibt es keine hoffnungslosen Fälle mehr: Kein Mensch ist so sehr mit seinen verfehlten Taten, mit seiner Schuld identisch, dass es für ihn keine Rettung mehr gäbe. Vor Gott gibt es Rettung für den schlimmsten Sünder. Jesus Christus steht auch für ihn ein; der Gekreuzigte tritt auch an Deine und meine Stelle, so wie er an die Stelle des Jesus Barabbas getreten ist: an den Ort, wo wir verurteilt werden und wo einmal der große Verurteiler unseres Lebens, der Tod, erscheint. Hier war und ist es Gott so ernst, so bitter ernst, dass er den verurteilten, den sich so selber verurteilenden Menschen retten will in seiner Liebe. Darum geht Gott in Christus selber im Gericht auf die Seite des Verurteilten.

„Das mag ein Wechsel sein“, heißt es in einem Weihnachtslied, aber keine Täuschung, sondern Gottes Versprechen und Rettung bekommen wir zu hören mit dem Namen Jesus Christus. Wunderbar – die Verwechselung des Schuldigen mit dem Unschuldigen! Es ist die einzig wunderbare Verwechselung in der Weltgeschichte. „Verwechselung“ oder „Austausch“ ist die wortwörtliche Übersetzung des griechischen Begriffs („katallagä“), der im Neuen Testament zu finden ist, und den die die deutschen Bibelübersetzungen mit „Versöhnung“ wiedergeben. Und „Versöhnung“ – das ist Kern und Stern der Theologie des Kreuzes: „Versöhnung“ zwischen Gott und Mensch als „Verwechselung“ und „Austausch“, als „Stellvertretung“, Existenzstellvertretung. Nirgendwo wird das so deutlich wie an Jesus Barabbas und Jesus Christus. Aber auch unsere Stellvertretung, unsere Versöhnung ist am Kreuz geschehen: der Gekreuzigte ist „für die vielen gestorben“ – auch „für uns gestorben“.

Diese tiefgründige Passions- und Leidensgeschichte erfährt in diesen Tagen eine unheimliche Aktualisierung. Ich vermute, dass niemand unter uns ist, der nicht die Verbreitung von Giftgas in Syrien auf das Schärfste verurteilt. Aber da so unheimlich strittig ist, wer von den beiden Kriegsparteien die Schuld für diese Katastrophe trägt, müsste so nachdrücklich und rasch wie möglich eine Aufklärung durch die UNO geschehen. Entweder war es ein Giftgasangriff, dann muss es irgendwann gelingen, die Verantwortlichen wegen eines Kriegsverbrechens zur Verantwortung zu ziehen. Oder es wurde eine Giftgasfabrik bombardiert, in der nicht Syrische Regierungstruppen, sondern andere Truppen Giftgas probierten. Dann sind auch diese scharf zu kritisieren, und zur Verantwortung zu ziehen. Auf alle Fälle aber kommt uns das Dilemma vor Augen in der Frage, wer denn heute der Terrorist ist. Können wir ihn identifizieren?

In diesem Zwiespalt müsste es verboten sein, dass die jeweils Einen die jeweils Anderen mit Stumpf und Stiel ausrotten wollen. Auf jeder Seite geschahen und geschehen unerträgliche terroristische Verbrechen. Kein Mensch der je einen und anderen Seite hat saubere Hände, so dass er sie glaubhaft wie Pilatus waschen und vorzeigen könnte. Das gelingt auch nicht durch militärische Antworten mit Raketen. Eines wird aber deutlich: es muss endlich Kompromisse geben, die den Frieden in Syrien so schnell wie möglich herbeiführen. Niemand darf auf seinem Ausgangspunkt bestehen. Die beteiligten Länder müssen aufeinander zugehen und den sinnlosen bewaffneten Kampf im Interesse der syrischen Bevölkerung beenden. – Was nützt es, dass ein Prediger es an diesem Sonntagabend vor einigen Christinnen und Christen sagt. Es nützt das gar nichts. Jedenfalls nichts, was in diesem schrecklichen Krieg zu verrechnen wäre. Aber es hilft möglicherweise Ihrem und meinem Gewissen, auf das Evangelium zu hören und darin Gottes Kraft zu spüren. In dieser Kraft trauen wir Gott viel zu.

Wer ist Jesus Barabbas? Wer ist Jesus Christus? – Dietrich Bonhoeffer:

Wir müssen uns immer wieder sehr lange und sehr ruhig in das Leben, Sprechen, Handeln, Leiden und Sterben Jesu versenken, um zu erkennen, was Gott verheißt und was er erfüllt. gewiß ist, daß im Leiden unsere Freude, im Sterben unser Leben verborgen ist; gewiß ist, daß wir in dem allen in einer Gemeinschaft stehen, die uns trägt. – Und wie überwinden wir das Böse? Indem wir es vergeben ohne Ende. Wie geschieht das? Indem wir den Feind sehen als den, der er in Wahrheit ist, als den, für den Christus starb, den Christus liebt.

Amen

Lied: 85, 5-7

Abendgottesdienst am Sonntag Palmarum - 9. April 2017 in der Martin Luther Kirche zu Gütersloh


Prof. Dr. Rolf Wischnath, April 2017