Freundschaft – oder: die Sehnsucht, verstanden zu werden

13.05.2019

Heute sind wir dauervernetzt und in ständigem Austausch mit unseren Freunden in den Social Media und Coworking Spaces. Karl Barth und Eduard Thurneysen hatten nicht einmal ein Telefon. Trotzdem pflegten sie ihre Freundschaft und Arbeitsgemeinschaft in einer Intensität, die uns staunen, ja neidisch werden lässt. Die über vierhundert Briefe, die sie sich allein in den Jahren 1913 – 1921, als Barth im aargauischen Safenwil und Thurneysen im 17 km entfernten Leutwil ihre jeweils erste Pfarrstelle inne hatten, schrieben, zeugen davon.

Die beiden Männer trafen sich regelmässig: nicht zum Biertrinken, sondern um einander Predigten vorzulesen, Unterrichtseinheiten vorzustellen oder um Ausschnitte aus Barths Römerbrief-Kommentar zu überarbeiten. Wenn Thurneysen morgens um 5 Uhr aufbrach, war er um 9 Uhr bei Barth. «Komm doch bald wieder herüber mit gutem Zuspruch. Ich lebe kärglich aus der Hand in den Mund, und niemand ruft hier Amen!», schreibt Barth zerknirscht am 18. Mai 1918 an Thurneysen. Im quasi ununterbrochenen Gespräch kam Barth auf Gedanken, fand Formulierungen und Stichworte, wie das berühmte «Gott – der ganz Andere», auf die er alleine nicht gestossen wäre.

Und man darf – wie Suzanne Selinger – mit guten Gründen vermuten, dass Charlotte von Kirschbaum später dieses Gegenüber im Gespräch ersetzt hat, ohne das Karl Barth niemals so unermüdlich und fokussiert hätte arbeiten können. Einen Menschen neben sich zu wissen, der «Ja» und «Amen» sagt und zwischendurch auch «Nein» – in Analogie zum göttlichen «Partner» – ist von immenser Bedeutung. Die dialektische Theologie ist zuerst und vor allem dialogische Theologie.

Andrea Anker