Die Gefangenen

Predigt zu Psalm 126


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1 Ein Wallfahrtslied.
Wenn der HERR die Gefangenen Zions erlösen wird,
so werden wir sein wie die Träumenden.
2 Dann wird unser Mund voll Lachens und unsre Zunge voll Rühmens sein.
Dann wird man sagen unter den Heiden: Der HERR hat Großes an ihnen getan!
3 Der HERR hat Großes an uns getan; des sind wir fröhlich.
4 HERR, bringe zurück unsre Gefangenen, wie du die Bäche wiederbringst im Südland.
5 Die mit Tränen säen, werden mit Freuden ernten.
6 Sie gehen hin und weinen und streuen ihren Samen
und kommen mit Freuden und bringen ihre Garben.
(Psalm 126)

Liebe Gemeinde,

morgen vor 75 Jahren begann der 2. Weltkrieg. Nur 25 Jahre nach dem ersten. Herr, bringe zurück unsere Gefangenen! …

I.

Wenn ich diesen Psalm lese oder höre, dann habe ich ihn vor Augen, den abgemagerten und um 10 Jahre gealterten Mann, der mit seinem Sperrholzkoffer die stille Straße in Berlin herunterläuft. Als er fortmusste, war er 25 gewesen, ein junger Mann, nach einem unbeschwerten Sommer. Nun war er 35 Jahre alt, und dazwischen lagen ein ganzer Krieg und eben die Gefangenschaft. Der Krieg, er spürte ihn in seinen Knochen und seinem Gesicht, ja, in seiner Seele. Zwar war er davongekommen.

Doch der Krieg tobte weiter in seinem Innern. Im Schrecken bei bestimmten Geräuschen, im Herzklopfen der plötzlichen Angst. In seinen Nächten sollte er weitertoben bis an sein Lebensende, das in über 50 Jahren kommen würde, jede Nacht, aber das wusste der Mann noch nicht, als er mit seinem Köfferchen in der Wattejacke die Straße herunterlief. Er hatte jetzt gerade um die 1800 km im Zug hinter sich, und noch ein paar Kilometer zu Fuß vom Bahnhof her, durch eine zerstörte, ihm fremd gewordene Stadt. Die Wattejacke hatten sie ihm neu gegeben, bei der Entlassung in Odessa, Entlassung aus der Gefangenschaft, im Tausch gegen die abgetragene Uniformjacke. Was würde ihn zu Hause erwarten? Er wusste es nicht, und in die Vorfreude seines Herzens mischte sich Bangen. Er verlangsamte seinen Schritt.

Wenn der HERR die Gefangenen Zions erlösen wird, dann werden wir sein wie die Träumenden.

Zu Hause lief der 5jährige Junge unruhig umher. Es roch wunderbar nach Kuchen in der kleinen Wohnung, das war etwas ganz Seltenes. Die Mutter hatte die Zutaten irgendwie herbeigeschafft, die Karten allein gaben das nicht her. Aber der kleine Junge war unruhig, weil die Mutter so nervös war, seit Tagen. Seit die Karte gekommen war, auf der stand, nun würde der Vater kommen. Die Karte aus Russland. Der Vater – den er nicht kannte.

Der Vater war der Mann in Uniform auf dem Bild am Küchenschrank. Der große Bruder behauptete, er kenne den Vater. Aber der behauptete viel, wenn der Tag lang war. Er kannte hier zu Hause nur Mutter und Oma und den großen Bruder, und Mutter hatte gesagt: Wie schön, Vater kommt wieder! Aber seitdem war sie die ganze Zeit aufgeregt gewesen und fast fremd, und er hatte sich bang gefragt, ob das nun wirklich etwas so Schönes sein würde. Da klopfte es an der Wohnungstür. Und Mutter, die irgendwas rührte in der Küche, rief: Mach du auf!

Wenn der HERR die Gefangenen Zions erlösen wird, dann werden wir sein wie die Träumenden. Dann wird unser Mund voll Lachens und unsere Zunge voll Rühmens sein. … Die mit Tränen säen werden mit Freuden ernten. Sie gehen hin und weinen und streuen ihren Samen und kommen mit Freuden und bringen ihre Garben.

Liebe Gemeinde, wenn ich den 126. Psalm höre, dann denke ich an die Szene, die ich Ihnen eben erzählt habe. Es ist die Geschichte meines Großvaters, und natürlich die meines Vaters, als er ein kleiner Junge war. Berlin 1949. Ich bin mit dieser Geschichte aufgewachsen. Mit dem bangen Warten des Sohnes und mit dem Sperrholzkoffer in der Hand des Vaters. Ich bin mit vielen Erzählungen aus dem Krieg und von der Flucht und aus der Nachkriegszeit aufgewachsen, aber diese Geschichte ist mir immer die zutiefst eindrücklichste gewesen.

Ich bin im Jahre 1968 geboren, und als ich in den 70er Jahren aufwuchs, dachte ich, der Krieg, das ist Lichtjahre her. Und zugleich hätte ich es an den Geschichten ablesen können, dass das nicht so war. Doch als Kind konnte ich das nicht einschätzen. Heute ist es mir sonnenklar. Wenn ich heute an den Herbst 1989 denke, die friedliche Revolution in der DDR vor 25 Jahren, dann ist mir diese Erinnerung so nah, als sei es gerade vorgestern gewesen. Nicht anders wird es für meine Großeltern Mitte der 70er Jahre gewesen sein, als ich eingeschult wurde. Denen war da das Jahr 1949 so nah, wie mir heute das Jahr 1989 nah ist.

II.

Dann wird man sagen unter den Heiden: Der HERR hat Großes an ihnen getan! Der HERR hat Großes an uns getan; des sind wir fröhlich. … Natürlich weiß ich, dass dieser Psalm ursprünglich ein Wallfahrtspsalm Israels war, und dass mit den „Gefangenen“ eigentlich die Heimkehrenden Zions gemeint sind, heimkehrend aus Deportation und Exil. Doch bleiben uns die Worte des Alten Testaments doch nie einfach historische Worte, sondern wir beziehen sie auf uns und unser Leben. Wie den Taufspruch heute und wie so viele andere Psalmworte und Prophetenworte, die einst zu ganz jemand anderem gesprochen waren. Und ist Ihnen aufgefallen, wie die Freude der Wallfahrer sich ausdrückt in Bildern aus der Landwirtschaft?

Die mit Tränen säen, werden mit Freuden ernten. Sie gehen hin und weinen und streuen ihren Samen und kommen mit Freuden und bringen ihre Garben.

Vielleicht war dieser Psalm das Lied für ein Erntefest, es gab derer mehrere im alten Israel. Vielleicht haben ihn einst Bauern gesungen, die im Spätsommer zum Tempel hinaufzogen… Wir hören die Worte und sehen vor uns Bilder aus dem bäuerlichen Leben. Säen und Ernten, Garben bringen. Eine gelungene Ernte, das war die sicher größte Freude im Jahreskreis. Über Jahrtausende. Alle Jahre wieder…: Die Garben sind aufgestellt, sie leuchten golden in der Sonne, es wird Brot genug geben im Herbst und im Winter, unsere Kinder werden satt werden. Das Heu ist geschnitten, wir werden die Tiere durchbringen, von deren Milch und Käse wir leben…

Wir heute sind die erste oder zweite Generation, die vom Ursprung entkoppelt lebt, die ersten, die sich von der Fruchtbarkeit der Erde unabhängig wähnen: Nur noch beiläufig nehmen wir die Getreide-Ernte zur Kenntnis, die sich gerade in diesen Tagen auf den Feldern rund um Osnabrück abspielt. Na und? Unser Brot und unsere Tiefkühlpizza kommen aus dem Supermarkt.

Über Jahrtausende aber hat jeder Mensch die Bildwelt des Psalms verstanden: Wenn Gott Zion wieder nach Haus bringt, werden wir sein wie die Träumenden. Wird unsere Freude so groß sein, wie bei der Ernte. Unser Mund voll Lachens, überschäumend laut, Jubel, Trubel, Heiterkeit, so wie beim Erntefest eben. So wird es sein, wenn Gott Zion wieder nach Haus bringt.

III.

… und das ist der Teil, der aus aktuellem Anlass kontrovers sein wird. Kontrovers und streitbar. Als ich mich vor zwei Monaten auf den Titel und den Text dieser Predigt festlegen musste, habe ich noch nicht gewusst, wie aktuell ihr Titel heute sein würde. „Die Gefangenen“. Damals dachte ich daran, dass jeder Krieg Gefangene kennt, und zwar im wörtlichen wie im übertragenen Sinn. Und ich dachte an diesen uralten Hoffnungs-Psalm, den ich sehr liebe.

Was ich damals noch nicht wusste: Dass heute vor einer Woche die Führung der sogenannten Volksrepublik Donbass Kriegsgefangene durch Donezk treiben würde, eine Demütigung gegen jedes Kriegsrecht, ein ekelhaftes Schauspiel. Wobei die zwischenzeitliche Leichenfledderei nachdem sie das malaysische Verkehrsflugzeug abgeschossen hatten, noch ekelhafter gewesen war. Doch auch das wusste ich damals noch nicht.

Was ich nach der Schmierenkomödie auf der Krim, der inkognito-Invasion, aber ahnte, war, dass es sich bei diesen Kretins, denen man in einem ziviliserten Land nicht einmal die Verwaltung eines 500-Seelen-Dorfes anvertrauen würde, nicht um „Aufständische“ handelt, sondern um Söldner in Putins Auftrag und sogar reguläre russische Soldaten. Inzwischen ist es klar. Und die Menschen im Donbass sind ihre Gefangenen. Seit der Krimbesetzung sind Monate vergangen und tausende Menschen im Donbass gestorben.

Inzwischen haben deutsche Regierungsvertreter gefühlte 100mal mit Vladimir Putin telefoniert. Was werden sie dort erfahren haben? Was muss noch geschehen, bevor ein deutliches Stoppsignal gegeben wird? Halbherzig werden ein paar Sanktionen verhängt, eigentlich eine alte Forderung der Friedensbewegung: Sanktionen statt Gewalt. Doch diese Sanktionen sind so lau, dass sie heute ein erstes Todesopfer gefordert haben: Wladimir Putin. Er hat sich totgelacht.

Liebe Gemeinde, manchmal habe ich den Eindruck, unser ganzes Land sei bis heute innerlich kriegsgefangen. Das ist zwar verständlich nach den Erfahrungen des 20. Jahrhunderts. Ob wir damit aber gut beraten sind, ist eine andere Frage. Aktive Friedenspolitik ja, aber Gefangenschaft?
Da werden Länder in Europa überfallen und mit schmutzigem Krieg überzogen, die Menschen in Polen und im Baltikum haben Angst: wer ist als nächstes dran? Putins Vizeministerpräsident witzelt öffentlich über Atombomber gegen Rumänien, und er kündigt offen an, als nächstes komme die Republik Moldau dran.

Derweil werden bei uns in Deutschland, auch in Osnabrück, Mahnwachen und Friedensgebete eingerichtet: damit bloß keiner Streit mit Russland wagt. Ruhe ist die erste Bürgerpflicht. Ruhe, nicht Entschlossenheit. Mich erinnert das an das schreckliche Versagen der Friedensbewegung beim Bosnienkrieg, als wir uns auch um jeden Preis nicht einmischen wollten, und damit die hunderttausend ermordeten Muslime und das Massaker von Srebrenica erst möglich gemacht haben. Völkermord 900 km vor München.

Die vermeintliche Lehre, die viele aus den schrecklichen Weltkriegen gezogen haben, scheint zu sein: Bitte es immer so machen, wie Chamberlain 1938. Niemals einem Aggressor entgegentreten. Beschwichtigung um jeden Preis. Aber die Frage muss erlaubt sein: Womit machen wir uns mehr schuldig? Mit diesem Stillhalten oder mit politisch entschlossenem Handeln? Fördert das Kuschen vor einem Aggressor wirklich den Frieden? Oder ermutigt es den Aggressor immer noch mehr – und bringt uns deshalb den Krieg näher? Die Antwort möge jede und jeder selbst geben. Und sie wird je danach ausfallen, wie wichtig uns die Menschen in den Nachbarländern sind. Am Ende stehen vielleicht mehr Fragen als Antworten.

Und an allem Ende steht die Hoffnung, die der uralte Psalm ausgedrückt hat schon in kriegerischer Zeit: Dass am Ende Gott dafür sorgt, dass das Leben siegt. Dass die Tränen der Menschen im Donbass und im Irak bei Gott von Freude abgelöst werden. Dann, wenn es Zion wieder gibt, sagt der Psalm. Dann, wenn die Gottesstadt für alle steht, sagt das Neue Testament.

Wenn der HERR die Gefangenen Zions erlösen wird, so werden wir sein wie die Träumenden.
Dann wird unser Mund voll Lachens und unsre Zunge voll Rühmens sein. Dann wird man sagen unter den Heiden: Der HERR hat Großes an ihnen getan!
Der HERR hat Großes an uns getan; des sind wir fröhlich.
HERR, bringe zurück unsre Gefangenen, wie du die Bäche wiederbringst im Südland.
Die mit Tränen säen, werden mit Freuden ernten.
Sie gehen hin und weinen und streuen ihren Samen und kommen mit Freuden und bringen ihre Garben.
Der Friede Gottes ist höher als alle Vernunft. Er bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus.

Amen.

Gehalten in der Bergkirche, Osnabrück am 31. August 2014


Pfr. Steffen Tuschling