Augenblick der Wahrheit

Predigt zu Lk 22, 54-62 am 3. April 2022

Petrus und der Hahn (Miniatur aus dem Chludow-Psalter, 9. Jahrhundert, Ausschnitt) © Wikipedia Commons

Von Kathrin Oxen

Herr, ich bin bereit, mit dir ins Gefängnis und in den Tod zu gehen. Das hatte Petrus zu Jesus gesagt, an ihrem letzten Abend, als sie zusammen um den Tisch saßen. War es der Wein, war es die Stunde, war es die Lust zu dem einen, großen Bekenntnis mit dem Geschmack von Tapferkeit, von Opferbereitschaft und Heldenmut? Ich bin hier, ich bleibe bei dir, ich bin bereit. Ich folge dir gleichfalls, mit freudigen Schritten. So beseelt war Petrus mit Jesus gegangen.

Aber schon draußen im Garten war der große Moment am Tisch verflogen. Und die prickelnde Wachheit auf einmal verwandelt in lähmende Müdigkeit. Dass der Abend daran schuld sei, der Wein, die Anspannung, die sie alle gespürt hatten, das war alles keine Ausrede mehr. Sie schliefen. Aus welchen Gründen auch immer.

Schlafend vor Traurigkeit, so fand Jesus sie. So erzählt es Lukas, so, als suche er einen Grund für diese unverzeihliche Müdigkeit. So menschenfreundlich das auch gemeint ist, das Entsetzen Jesu angesichts seiner schlafenden Freunde bleibt doch stehen zwischen den Zeilen: Was schlaft ihr?

Bist du etwa eingeschlafen, Petrus? Das ist der Fauxpas jeder Nacht, die voll Liebe sein will und nicht wach bleiben kann. Wenn gerade nichts wichtiger wäre, als wach zu bleiben, da zu bleiben, nah zu sein. Es gab Schweiß und Blut und Tränen in diesem Garten und Jesus war allein damit. Es war nur der erste Akt der Tragödie, in die sie alle mit hineingerissen wurden. Sie wurden wach mit dem Geschmack von Schlaf im Mund. Sie versuchten, sich unauffällig den Schlaf aus den Augen zu reiben. Aber da waren die Soldaten schon da.

Als wir wach wurden, waren die Soldaten schon da. Als wir uns noch den Schlaf aus den Augen rieben am 24. Februar 2022, da hatte der Krieg schon begonnen. „Wir sind in einer anderen Welt aufgewacht“, dieser viel zitierte Satz - ist der eigentlich richtig oder falsch? Oder haben wir bloß den Garten, in dem wir schliefen, mit dem Paradies verwechselt? Und vergessen, dass wir immer noch jenseits von Eden leben, in einer Welt voller Mühen und Leiden? Viel zu pessimistisch hätte mir das noch vor ein paar Wochen geklungen. Und mit eiligen Schritten hat mich die Wahrheit eingeholt, dass das Böse jederzeit einbrechen kann und alles zertrampeln, wie die Schar Soldaten mit ihren Stiefeln im Garten Gethsemane. Dies ist eure Stunde und die Macht der Finsternis. (Lk 22,53a).

Sie ergriffen ihn aber und führten ihn ab und brachten ihn in das Haus des Hohenpriesters. Petrus aber folgte von ferne. Da zündeten sie ein Feuer an mitten im Hof und setzten sich zusammen; und Petrus setzte sich mitten unter sie.

Da sah ihn eine Magd im Licht sitzen und sah ihn genau an und sprach: Dieser war auch mit ihm. Er aber leugnete und sprach: Frau, ich kenne ihn nicht.

Und nach einer kleinen Weile sah ihn ein anderer und sprach: Du bist auch einer von denen. Petrus aber sprach: Mensch, ich bin's nicht. Und nach einer Weile, etwa nach einer Stunde, bekräftigte es ein anderer und sprach: Wahrhaftig, dieser war auch mit ihm; denn er ist auch ein Galiläer. Petrus aber sprach: Mensch, ich weiß nicht, was du sagst. Und alsbald, während er noch redete, krähte der Hahn. (Lk 22, 54-60)

Dies ist die Stunde. Der Augenblick der Wahrheit für Petrus. So eilig sind seine Schritte auf einmal gar nicht mehr. Er folgt Jesus nur von ferne, im Schutz der Finsternis. Nach kurzem Zögern setzt er sich in diesem Hof in den Kreis um das Feuer. Er bereut es sofort. Was kann man schon erkennen von meinem Gesicht im zuckenden Schein der Flammen, verborgen im Schatten des Umhangs, das hat er gedacht. Es war doch so kalt.

Aber es wurde noch kälter bei den Worten der Frau: Dieser war auch mit ihm. Dieser, kein anderer. Er, Petrus. Sie hatte ihn genau angesehen. Woher kannte sie ihn nur? Und während er das dachte, sagte er etwas anderes: Frau, ich kenne ihn nicht. Sein Optimismus ist schnell verklungen. Ich bin bereit, mit dir ins Gefängnis und in den Tod zu gehen.

In Wahrheit müsste es heißen: Ich bin zu gar nichts bereit, in diesem kalten Hof vor dem Haus. Ich bin noch nicht einmal bei ihm drinnen, wo sie ihn bestimmt schon gefesselt haben und ihn vielleicht schlagen, einfach so. Weil man das eben so macht, wenn man Macht dazu hat. Weil diese Welt kein Paradies ist, sondern sich jederzeit in einen Ort voll finsterer Schrecken verwandeln kann.

Ich kenne ihn nicht. Ich bin‘s nicht. Ich weiß nicht, was, du sagst. Es dauert alles gar nicht lange, nur etwa eine Stunde. Unerbittlich genau schreibt Lukas es auf. Da hat Petrus Jesus schon dreimal verleugnet. Dann kräht der Hahn. Der Schrei im Ohr macht Petrus endgültig wach. Kurz nach Mitternacht geschieht das alles, zur Zeit der dritten Wache, im gallicinium, in der Stunde des Hahns. Die graue Nüchternheit des Tages zieht langsam auf. Und Petrus bleibt allein im Hof mit der Wahrheit über sich selbst.

Ein Augenblick der Wahrheit, auch für uns. Denn wir sind ja nicht drinnen in diesem Krieg, so grausam und schmutzig. Wir sitzen im Hof davor und uns ist kalt. Denn wir dachten, das gäbe es gar nicht mehr in unserer Welt, im 21. Jahrhundert, dass einer das eben so macht, weil er Macht dazu hat. Einen Krieg beginnen, in ein Land einmarschieren, Städte zerbomben, die Frauen und Kinder auf die Flucht zwingen nur mit dem Allernötigsten.

Wir reiben uns den Schlaf des Friedens und der Sicherheit aus den Augen und sehen ungläubig auf die Bilder. Auf einmal sind sie nicht mehr stumm und schwarz-weiß, sondern lebendig und bewegt, mit Ton und in Farbe. Rauch und Trümmer, Soldaten und zerschossene Panzer, Schweiß und Blut und Tränen. Und Tapferkeit, Opferbereitschaft, Heldenmut, diese großen, ein bisschen eingestaubten Worte, dazu bekennen sich gerade die anderen, ausgerechnet sie. Sie leiden doch, nicht wir.

Es hat nicht lange gedauert, nur ein paar Tage, da saßen wir da mit der Wahrheit über uns selbst. Wir waren so optimistisch, so irritierend zuversichtlich, auch angesichts all dessen, was schon lange vorher geschehen war. Was weiß ich denn von der Ukraine, was interessiert mich die Krim oder überhaupt dieser ganze unübersichtliche Osten Europas? Natürlich sind wir für Frieden ohne Waffen, für Schwerter zu Pflugscharen.

Angesichts dieses Krieges zerbrechen Weltbilder und Menschenbilder. Diese Einsicht ist ernüchternd. Und manche von uns sehen so aus und benehmen sich so, als hätten sie vor allem mit ihrer eigenen, gewaltigen Ernüchterung zu kämpfen. Als ginge es ihnen nicht anders als nach einem langen Abend mit zu viel Wein, eingeschlafen und plötzlich aufgewacht. Ein Augenblick der Wahrheit im unbarmherzigen Licht eines neuen Tages.

Es ist ein ähnliches Licht wie das, in dem die Frau das Gesicht von Petrus gesehen hat. Es fällt auf unsere Überzeugungen und auf unser Bild von uns selbst. Was bin ich bereit zu tun, wenn andere leiden müssen? Wie tapfer wäre ich, was würde ich opfern, wo zu einer Heldin werden?

Die großen Worte sind leicht gesagt: Frieden, Menschenrecht, Völkerrecht. Man kann sich berauschen daran. Aber jetzt kosten sie uns auf einmal etwas, so überraschend konkret an der Tankstelle und im Supermarkt. Es geht um Gas und um Öl, es geht erstaunlicherweise wirklich darum, wer die Feuer nährt, um die wir uns setzen. Dies ist der Augenblick der Wahrheit über uns selbst. Und jetzt entscheidet sich, was nur Worte sind. Und was Taten.

Und der Herr wandte sich und sah Petrus an. Und Petrus gedachte an des Herrn Wort, wie er zu ihm gesagt hatte: Ehe heute der Hahn kräht, wirst du mich dreimal verleugnen. Und Petrus ging hinaus und weinte bitterlich. (Lk 22, 54-62)

Alles geschieht zur gleichen Zeit, in einem Augenblick. Der Hahn kräht. Jesus wendet sich noch einmal um, als sie ihn wegführen. Er sieht Petrus an. Mit dem einen Blick ist alles wieder da. Und alles ist gesagt. Der Hahn wird heute nicht krähen, ehe du dreimal geleugnet hast, dass du mich kennst. (Lk 22,34)

Nichts ist geblieben von seinem großen Versprechen als ein Hahnenschrei im Ohr, die Schwäche im Herzen, die Scham. Petrus erlebt die Passion in der Passion, das Leiden im Leiden: Dass es so schwer ist, wach zu bleiben, da zu sein, nah zu sein, wo Menschen leiden.

Jesu, blicke mich auch an. Ich will nicht allein bleiben mit der Wahrheit über mich selbst. Im Augenblick der Wahrheit halte ich mich fest an diesem einen, letzten Blick Jesu. So, wie man sich festhalten kann an einem letzten Blick, manchmal ein Leben lang. Weil dieser Blick mich festhält, mit meiner Schwäche und Scham. Und mit meinen Tränen.

Amen


Kathrin Oxen