Was will das Bild?

Notat to go - Barbara Schenck

Maria mit dem Kind, 1820 (Detail) - Julius Schnorr von Carolsfeld

Eine These vorweg: Bilder haben für ihre Stürmer mehr Macht als im Glauben derer, die vor ihnen beten.

Gibt es ein Bild, das Sie besonders berührt? Oder eins, das Sie ärgert? Haben Sie das schon einmal von einem Bild gesagt: „Das spricht mich an?“
Ich hab's und muss mich nun fragen lassen: Was soll diese vitalistische, animistische Sprechweise? Schließlich ist ein Bild doch nur ein Ding, kein Lebewesen, das sprechen kann!  - Aber, aber, das sei doch nur eine metaphorische Sprechweise, die ausdrücke, wie die Betrachterin das Bild wahrnehme, keine Aussage über das Wesen des Bildes an sich. Und von einer magischen Beziehung zwischen Bild und Betrachter könne nicht die Rede sein. Den Einwand höre ich und klar, er ist richtig, aber dennoch sei an dieser Stelle ein kleines Experiment empfohlen: Suchen Sie aus einem alten Album ein Porträt Ihrer Mutter. Nehmen Sie es und schneiden ihm die Augen aus.

Vom Leben der Bilder

„Vom Leben der Bilder“ spricht W.J.T. Mitchell, der im Jahr 1994 den Cpictorial turn“ ausrief. Die „Wiederentdeckung des Bildes“ sei notwendig, wenn es darum gehe, unsere Welterfahrung zu deuten, so Mitchell. Dabei denkt der Professor für Kunstgeschichte vor allem an die mentalen Bilder, die zwischen den Medien und unseren Körpern fluktuieren, ja: sich ereignen. Mitchell ist überzeugt: Bilder entstehen überhaupt erst im Akt der Wahrnehmung. Was wir auf dem Bild sehen, wird präsent. Bilder fungieren nicht nur als Zeichen für Lebewesen, sondern treten als Lebewesen auf. „Was will das Bild?“, fragt Mitchell, um dem „doppelten Bewusstsein“ auf den Grund zu gehen, das Menschen, die wissen, dass Kunstwerke nicht beseelt sind, dazu bringt, sie so zu betrachten, als seien sie lebendig und besäßen die Macht, Menschen zu beeinflussen.
Zum zweiten Gebot bietet Mitchell eine anregende Auslegung: Die Bilder zerstörenden Ikonoklasten seien von einer größeren Macht der Bilder überzeugt als die „echten Götzendiener“, die erst einmal nicht darauf bestünden, dass andere ihre Idole ebenfalls verehren.

Wer also billigt dem Bild mehr Macht zu:
- Eine orthodoxe Christin, die in ihrer Kirche eine Ikone küsst? Oder ein muslimischer Taliban, der eine Buddha-Statue zerstört?
- Ein Katholik, der sich an den pausbäckigen Engeln in seiner barocken Kirche erfreut oder eine reformierte Christin, die dafür plädiert, den Putz über den alten Wandmalereien in ihrer Kirche nicht zu entfernen?
- Wer fordert, sich von allen Gottesbildern fern zu halten und sich zu befreien von eigenen Gottesbildern sowie künstlerischen und pädagogischen Hilfsmitteln, um so frei zu werden „für die völlige Hingabe an Gottes wunderbares Werk in Jesus Christus“, wie eine Kundgebung des Reformierten Bundes 1958 empfiehlt, oder wer auf der Suche nach einer Inspiration für die Sonntagspredigt in die Kunsthalle geht?

Spiel auf dem Bild statt Zerstörung

Und was machen wir jetzt mit dem zweiten Gebot?
Mitchell empfiehlt im Umgang mit Götzenbildern, diese nicht zu zerstören, „sondern auf ihnen zu spielen, als wären sie Musikinstrumente“.
Als konkretes Beispiel fällt mir zur Weihnachtszeit ein Bild von Max Ernst ein: „Die Jungfrau züchtigt das Jesuskind vor drei Zeugen: André Breton, Paul Éluard und dem Maler“, 1926 - zur Ansicht hier: www.museenkoeln.de
Nicht nur, dass der Maler eine prügelnde Maria zeigt anstatt die ihren Sohn zärtlich liebkosende Mutter, nein, das Spiel mit den Motiven ist viel subtiler:
Das Jesuskind hat die gespiegelte Gestalt der Venus in dem Gemälde „Ariadne, Venus und Bacchus“ von Jacopo Tintorettos; die Haltung der Maria ist fast identisch mit der einer der Rahmenfiguren von Michelangelos Deckenfresko der Sixtinischen Kapelle in Rom - zur Ansicht: www.museenkoeln.de

Wer so gut wie Ernst auf dem Bild spielen will, muss wohl die Kunst des Sehens beherrschen; wer sich kein Bildnis machen will, viel übers Medium Bild wissen.

Hier das Reformationsdekadenjahrthema „Bild und Bibel“ auf reformiert-info: www.reformiert-info.de/13527-329-12-2.html (unter Aktuelles, linke Spalte oben).

Quellen:
Mitchell, W.J.T., Das Leben der Bilder. Eine Theorie der visuellen Kultur, 2. Aufl. München 2012 (2008)
Museen Köln: Klassisches im Ernst – Bild der 36. Woche, September 2003
www.museenkoeln.de/home/bild-der-woche.aspx?bdw=2003_36#prettyPhoto
Neuhaus, Dietrich, Wort und Bild. Die Bilderfrage als Problem der politischen Theologie, im Magazin für Theologie und Ästhetik:
www.theomag.de/17/dn2.htm (2002)

Barbara Schenck, 3. Dezember 2014

Mitteilungen - Kommentare

Wolfhart Koeppen am 5. Dezember:

Danke für diesen differenzierten Beitrag! Er hinterfragt ideologische Fronten und steile Alternativen. Und die vorangestellte These ist sowohl ökumenisch als auch interreligiös hilfreich. Menschliche Wahrnehmung und menschliches Denken kommen ohne Bilder nicht aus. Schon wer auf der Kanzel von "Gottes Sohn" oder einem "neuen Himmel und einer neuen Erde" spricht, gebraucht - Bilder. Erst deren Verabsolutierung oder Dogmatisierung gibt ihnen destruktive Macht - so oder so.